Was der Unterschied zwischen Hamburg und Berlin ist, verkörperte sich heute in: einer Thermoskanne. So ein blaues Teilchen, in das etwa 0,5 Liter irgendeiner Flüssigkeit passen. Bekannter Hersteller ist zum Beispiel Emsa. Man drückt oben auf einen Knopf und kann direkt aus dem Behältnis trinken. Das ist praktisch auf Reisen oder bei der Arbeit, beim Picknick oder schlichtweg unterwegs sonst wo. Heute jedoch saß die Kanne (eher vom Hersteller eines in den 70-er Jahren untergegangenen Start-ups) in Reihe 14 auf Platz 16. Und an ihr dran war ein Mann, den man so schon mal gesehen hatte: Groß und eher hager, mit einem markanten und doch leicht verschwiemelten, gleichwohl eher schmalem Gesicht und einer ausgeprägten Nase, einem braunen Fussel-Kinnbart und langen braunen, von grauen Strähnen durchzogenen Haaren. Er trug ein blaues Sweatshirt und eine graue Hose, dazu Sneaker von – keine Ahnung. Also ein Outfit, mit dem man auch zum Tierarzt, zu seinem Job als Motorroller-Reparateur oder zum Vereinstreffen der Bürgerinni gegen Luxussanierung geht. Nr. 16/14 ging in die Oper „Echnaton“. Musik Philip Glass, Inszenierung Barrie Kosky. Warum auch nicht. Keine Theaterszene in Deutschland ist vielseitiger als die Berliner. Und kein Publikum. Aber diese Thermoskanne hat mich ein wenig verstört. Macht man das jetzt so? Bringt man sein Selbstgebrautes mit in die Oper? Und sei es auch nur die Komische, die gerade im Schillertheater beheimatet ist? In der Elbphilharmonie sieht man das nicht. Selbst im auf der Reeperbahn beheimateten St.-Pauli-Theater warten alle bis zur Pause, bevor nachgeladen wird. Überhaupt war das schon eine besondere Ansammlung von Menschen, die sich da die auf ägyptisch, akkadisch, hebräisch, englisch und deutsch (den Part habe ich überhört) vorgetragene Musik anhörte, vor allem aber ansah. Während auf der Bühne eine 90-er Ästhetik vorherrschte – man dachte schon nicht nur an Robert Wilson, sondern auch an Matrix, Yamamoto und Pet Shop Boys – saßen in den buddelwarmen Zuschauerreihen alle denkbaren Geschlechter in allem, was man so unter „Der/die kommt bestimmt aus Berlin, Mitte oder Friedrichshain oder den Bezirk, den man noch nicht beim Namen nennen darf, weil er so im Kommen ist“. Plus Kette, die auch als unknackbares Fahrradschloss herhalten könnte. Gerne mit glitzerndem Kreuz dran. Wieder was gelernt als Hamburg Provinz-Osterei. Neben mir jedoch saß ein Typ, der so auch als Tischler aus Ottensen durchgehen könnte. Zu Beginn roch er nach kaltem Aschenbecher. Zum Schluss nach sehr warmem Aschenbecher. Trotzdem war er angenehmer als der Vordermann meiner Begleiterin, die drei Stunden lang auf die Rücken- und Nackenbehaarung eines schwerhörigen Mittsechzigers schauen musste. Da war ich mit meinem Vordermann, zwanzig Jahre älter und seit Langem aus seinem Kastensakko herausgewachsen und seiner Fuchtelei mit dem Opernglas noch ein wenig besser bedient. Ach ja: Die Musik war hypnotisch, ganz toll. Das Orchester und die Sänger:innen bewundernswert (was mussten die mitzählen, bei diesen ganzen meditativen Wiederholungen und rhythmischen Verschiebungen!), ich mochte den Text und die Bühnenbilder (bis auf das doch schon zu oft selbst praktizierte Gerenne mit den solarbetriebenen Gartenkugeln), ich mochte meine Begleitung und dass so viele Menschen ins Theater gehen und in der Zeit nachweislich keinen Unsinn anstellen. Eigentlich hat mir alles gefallen. Selbst dass die Temperatur im Laufe des Abends von 22 auf gefühlt 34 Grad stieg, war okay. Nur hätte ich wahnsinnig gerne gewusst, was Bürgerinni 16/14 in seiner Thermoskanne hatte. Ich schätze, gegen alle Wahrscheinlichkeit: Berliner Kindl. Am Schluss dann doch lauwarm.

